Gereizt zerrte Taleea an ihren Ketten. Sie scheuerten und schmerzten an den Hand- und Fußgelenken, wo eiserne Klammern Taleeas Gliedmaßen erbarmungslos umschlossen. Das Zerren brachte natürlich überhaupt nichts, was ihre Frustration nur weiter steigerte. Wütend starrte sie die Ketten an, die an der Wand befestigt waren und ihr nur wenig Bewegungsspielraum ließen. Aber trotz ihres drohenden Blickes wollten die Ketten einfach nicht zu Staub zerfallen. Das flackernde Licht einer einzelnen Fackel, das durch die Gittertür drang, beleuchtete den winzigen Verliesraum, in dem sie sich befand, nur spärlich. Das Gitter führte zu einem kurzen Gang, der an einer Tür endete. Hinter dieser Tür befand sich ein großes Gewölbe, wie sie gesehen hatte, als man sie in den Keller des Gildenhauses der Portalmagier geschleppt hatte. Ein düsteres Singen drang durch die Tür und ließ sie erschauern. Die verrückten Zauberer bereiteten das Ritual zur Herbeirufung weiterer Monster vor ... und sie sollte darin eine wesentliche Hauptrolle spielen. Inzwischen hatte sie die Phase, wo ihr die Angst die Kehle zugeschnürt hatte, überwunden. Jetzt war sie eigentlich nur noch wütend. Laut fluchte sie auf diese Irren.
Aber noch lauter schimpfte sie auf sich selbst. Wie hatte sie so dumm sein und ohne Rückendeckung in das Haus eindringen können?
Ob Algon und die anderen aus der Botschaft, die sie hinterlassen hatte, die richtigen Schlussfolgerungen ziehen würden? Oder würden sie zu spät reagieren?
Taleea kämpfte gegen die aufkommende Panik an und begann wieder an den Fesseln zu zerren. Sie musste hier raus. Um jeden Preis.
Der düstere Gesang aus der Ferne war Motivation genug.
******
Skeptisch starrte Großmeister Laoin auf den Zettel mit Taleeas Botschaft in seiner Hand. Dann blickte er Großmeister Phadric und die drei jungen Templer an. "Darf ich mal erfahren, warum wir von eurem kleinen "Projekt" bisher nichts erfahren haben? Ich meine, es geht ja lediglich um eine der größten Verschwörungen in der Geschichte Hibernias. Wenn das denn alles stimmt. Wovon ihr mich wirklich noch nicht überzeugt habt."
Großmeister Rimbald, der auf der anderen Seite des großen runden Tisches in einem schweren Holzsessel saß, räusperte sich und blickte Algon nachdenklich an. "Ihr erwartet eine ganze Menge von uns." Er machte eine ausholende Geste. "In dieser Ratskammer sind schon viele wichtige Entscheidungen getroffen worden. Aber das, was ihr von uns verlangt, könnte eine der folgenreichsten Entscheidungen für die Dunklen Templer überhaupt sein. Ihr behauptet, dass die Portalmagier ? oder zumindest ein Teil von ihnen ? in eine Verschwörung verstrickt sind und ihre Macht dazu genutzt haben, ein furchtbares Monster auf das Reich loszulassen. Und nun sogar noch mehr Monster herbeirufen wollen. Und all eure Beweise sind ein Zettel eines Mädchens, das noch nicht einmal unserem Orden angehört und wirre Berichte über Kämpfe mit einem Verstümmelten Okabi. Und nun verlangt ihr, dass wir Templer in das Gildenhaus der Portalmagier eindringen sollen, eure Freundin befreien und die Seoltoir daran hindern, ein Ritual zu vollziehen, das angeblich heute Abend stattfinden soll. Ich hoffe, ihr versteht, dass ich da ziemlich skeptisch bin. Wenn eure Behauptungen nicht stimmen, dann sind wir Templer erledigt, wenn wir eurer Bitte Folge leisten. Die Portalmagier sind eine mächtige Vereinigung, die beim Hof höchste Wertschätzung genießt. Ihr Führer, Lord Albron, sitzt im Hohen Reichsrat und hat das Ohr unserer Reichsoberen. Er ist zwar ein wirklich merkwürdiger Elf, aber er macht auf mich nicht den Eindruck eines skrupellosen Verbrechers. Man wird uns zerschmettern, wenn ihr euch irrt und wir grundlos in den Gildensitz der Portalmagier eindringen."
Großmeister Eartai, der bis zu diesem Moment an einem der großen Bogenfenster gestanden hatte und auf den Hof der Templerfeste geblickt hatte, drehte sich um und starrte Algon an. "Ich gehe sogar noch weiter. Was ihr uns bis jetzt überhaupt nicht geliefert habt, das ist eigentlich das Wichtigste: ein Motiv. Warum sollten die Portalmagier ... einige Portalmagier ... denn eine solche Verschwörung anzetteln? Das will mir nicht einleuchten."
Als Großmeister Phadric, den Algon dazu gebracht hatte, die Anführer der Dunklen Templer zu einer Krisensitzung zusammenzurufen, schwieg, begann Algon zögernd zu sprechen:
"Eminenzen, wir haben tatsächlich kein Motiv für die Verbrechen der Portalmagier finden können. Uns ist auch nicht klar, warum sie diesen geheimen Krieg gegen Caim en ceven begonnen haben. Aber es ist eine Tatsache, dass nur die Seoltoir in der Lage waren, einen Okabi aus dem Abgrund der Finsternis zu befreien und auch zu kontrollieren. Da sind sich diejenigen, die es beurteilen können, einig. Und es war ein Okabi, Eminenzen. Da bin ich mir ganz sicher. Ich habe gegen ihn gekämpft. Nun ist unsere Freundin, die die Machenschaften der Zauberer erkunden wollte, verschwunden. Wenn Taleea schreibt, dass heute ein weiteres Herbeirufungsritual stattfinden soll, dann stimmt dies auch mit Sicherheit. Ich verbürge mich für sie..."
Eartai unterbrach ihn mit einem verächtlichen Schnauben. "Entschuldige bitte, Algon. Aber deine Taleea ist ja wohl kaum eine vertrauenswürdige Quelle. Du sagst ja selbst, dass sie bei den Portalmagiern eingebrochen ist. Das sagt doch schon einiges über ihren Charakter aus, nicht wahr?"
"Taleaa ist eine ganz tolle Person und eine wirklich gute Freundin!", platzte da Felips ärgerlich heraus. "Wir können sie doch nicht einfach von ein paar verrückt gewordenen Zauberern umbringen lassen!" Beruhigend legte Algon ihm die Hand auf die Schulter.
"Es tut mir leid, Felips, aber an dem, was Eartai sagt, ist etwas dran", warf Großmeister Laoin ein. "Ich formuliere es jetzt einmal ganz hart: Für die Gilde wäre es vermutlich besser, wenn wir die Situation einfach nur beobachten würden. Wenn ihr Unrecht habt, dann haben wir unseren Orden nicht unnötig gefährdet. Wenn ihr aber Recht habt, dann stirbt Taleea zwar und wir haben es mit mehreren Monstern aus dem Abgrund der Finsternis zu tun, die in Tir na nÓg herumlaufen. Aber seien wir ehrlich: wir haben alle schon gegen Okabis und andere Bestien aus dem Verlies gekämpft. Die sind zwar furchtbar, aber man kann sie besiegen. Auch mehrere. Wir könnten also immer noch später reagieren."
Entsetzt starrte Algon den kleinen Beschwörer an. "Das kann nicht Euer Ernst sein, Eminenz. Wir können doch nicht einfach zusehen, wenn..." Seine Stimme versagte.
Mit leiser, aber eindringlicher Stimme begann Großmeister Phadric, der bis dahin geschwiegen hatte, zu sprechen.
"Laoin, so kenne ich dich gar nicht. Ist das nun nur persönliche Feigheit oder hat dich deine Aufgabe als einer unserer Gildenleiter wirklich so übervorsichtig gemacht?" Mit einer Handbewegung unterbrach er den wütend aufbrausenden Beschwörer. "Wir Dunklen Templer haben uns einmal zusammengeschlossen, um das Böse von unserem Reich abzuwenden. Ob es nun aus einem der feindlichen Reiche oder von innen kommt. Wir sind diejenigen, die das letzte Bollwerk gegen die Feinde Hibernias bilden. Wir Templer kämpfen an allen Fronten und haben uns einiges an Ruhm und Ehre erworben. Aber nicht, weil wir uns ständig umschauen und gucken, ob unsere Handlungen politisch korrekt sind, sondern weil wir danach entscheiden, was wir für gut und richtig erachten.
In allen Reichen gibt es nichts Übleres als die Dämonen aus dem Reich der Finsternis. Das weißt du ganz genau. Nein, ich korrigiere mich, es gibt doch etwas Übleres. Und das sind Verräter, die solche Dämonen in unser Reich hineinlassen.
Ich sage: es ist unsere Pflicht, die Anrufung weiterer Dämonen zu verhindern und damit auch Taleea zu retten. Was, wenn nicht dies, wäre unsere Aufgabe als Orden Hibernias?"
Schweigen breitete sich aus. Vorsichtig schaute Algon in das wütende Gesicht des kleinen Lurikeen-Beschwörers, der jedoch nichts auf Phadrics Vorwürfe erwiderte.
Schließlich meinte Großmeister Rimbald nachdenklich: "Ich kann nicht glauben, dass alle Portalmagier in diese angebliche Verschwörung verwickelt sein sollen. Ihr alle kennt Glasny aus Druim Ligen. Na gut, mir geht sie mit ihren ewig gleichen Sprüchlein auch auf die Nerven, aber eine
Verschwörung, um Dämonen ins Reich zu lassen? Nein, ich will einfach nicht glauben, dass sie sich an so etwas beteiligen würde."
"Es müssen ja auch nicht alle Seoltoir in die Verschwörung verwickelt sein", wandte Algon vorsichtig ein. "Taleea schreibt ja in ihrer Botschaft, dass nur 'Teile der Portalmagier' daran beteiligt sind. Vielleicht wissen die meisten Seoltoir davon ja gar nichts und es handelt sich bei den Mördern lediglich um einen Geheimbund in der Gilde der Seoltoir."
"Alles reine Spekulation", knurrte Laoin. "Wir haben keine Beweise. Nichts. Gar nichts. Ihr wisst, was das bedeutet. Wir könnten nicht warten, bis die Reichswache etwas unternimmt, sondern müssten selbst handeln, alle waffenfähigen Templer zusammenrufen und heute Abend das Gildenhaus der
Portalmagier stürmen. Es wird Tote geben. Das ist unvermeidlich." Müde schüttelte er den kahlen Kopf. "Seid ihr dazu bereit?", fragte er die anderen Gildenoberen.
Wieder herrschte Schweigen. Nervös beobachtete Algon die vier in Gedanken versunkenen Anführer der Dunklen Templer.
Schließlich nickte Großmeister Eartai, der Waldläufer. "Weißt du, Laoin, ich glaube, Phadric hat Recht. Manchmal muss man ein Risiko eingehen, um das Richtige zu tun. Wir sollten etwas unternehmen."
Großmeister Rimbald stimmte ihm leise zu: "Ich denke auch. Die Gefahr für unseren Orden ist ohne Frage groß, aber die Gefahr für das Reich ist ungleich größer, wenn wir zulassen, dass jemand die Dämonen auf die ahnungslose Bevölkerung Hibernias loslässt." Er starrte den Lurikeen an. "Wir sollten zuschlagen."
Phadrics Augen glühten, als er Rimbald zunickte. "Meine Meinung kennt ihr."
Einen Moment saß Großmeister Laoin gedankenverloren auf seinem Sessel. Dann seufzte er. "Nun gut. Damit ist es wohl entschieden. Wir werden also gegen die Portalmagier vorgehen. Ich schlage vor, dass wir zur ersten Abendstunde die Templer in der großen Halle versammeln. Sie sollen voll ausgerüstet erscheinen. Dann erklären wir ihnen, was wir vorhaben. Und dann ..." Er zuckte mit den Schultern. "Warten wir ab, was wir bei den Seoltoir vorfinden."
Großmeister Phadric erhob sich. "Ich werde mal auskundschaften, ob es noch einen anderen Weg in das Gildenhaus gibt als den Haupteingang. Irgendwie kann ich mir kaum vorstellen, dass die ihr Ritual in der Empfangshalle im Erdgeschoss durchführen."
Teslin stieß Algon heimlich mit dem Ellbogen in die Rippen. Als der sich umdrehte, sah er in das grinsende Gesicht seines Freundes. "Siehst du? Geht doch."
"Hoffentlich bereuen wir das nicht", flüsterte Algon.
******